Das könnt ihr euch doch ausrechnen! Ein Wettbewerb mit Texten zum Thema «Migration». Ihr könnt 10'000 Schweizer Franken erschreiben mit maximal vier Seiten Text. Ein Tag Arbeit. Muss nicht mal korrektes Deutsch sein. („Ich spreche kein Wort Tschechisch“, sagte der Mann gestern am Bahnhof mit tschechischem Akzent.)
Und es zählt sogar «Binnenmigration». Ihr seid doch alle schon mal in eine neue Strasse gezogen. Neue Nachbarn geben immer gute Geschichten her. Neue Einkaufsmöglichkeiten, neues «7-Min-zur-Uni-mit-33er». Das ist existentielle «Geworfenheit», versteht ihr? Ihr müsst es euch – wie gesagt – nur ausrechnen: was kommt, wird Tränendrüsen oder Zwerchfell belasten. Also macht es anders.
Vermeidet folgende Begriffe: Heimat, Exil, Fremdheit, Behörden
Vermeidet folgende Kontexte: patch-work-Identität, «Begegnungen» im emphatischen Sinn.
Macht dieses Exerzitium rasant, urban, spiegelt das Fragmentarische in der Sprache, migriert sie ins Rhythmische, Musikalische. Hier zählt nicht der Landweg, hier muss man übers Wasser kommen.
«La mia razza ha coltelli che ardono» (Salvatore Quasimodo). Also wetzt die Messer und schnitzt euch was.
«-psychotische systeme sind
nicht selten von bestechender binnenlogik: hatte sich doch
bereits schelling über hölderlins subversive frisur be-
klagt - so viel haare und kein kamm!»
Ulf Stolterfoht: fachsprachen X-XVIII. Urs Engeler Editor, 2002.
Grossartige Spracharbeit.
«I. Rempublicam summam societatis humanae formam esse nego.
II. In natura nihil supervacaneum est.
III. Mathesis et ars et scientia dicenda.
IV. Fermatius theorema suum inclytum non demonstravit.»
Das sind Leopold Kroneckers Disputationsthesen der mündlichen Doktorprüfung.
Ich liebe lateinische mathematische Dissertationen (De unitatibus complexis). Diese verstaubte akademische Genauigkeit, diese Akademien und hundertjährige Projekte. Wunderbar und schrecklich zugleich.
Am fröhlichsten wird Kronecker immer dort, wo er sich als Historiker betätigt und dem «Hrn. Jordan "seine Resultate"» zurechtrückt.
(Leopold Kronecker: Mathematische Werke, Bd. 1).
«Qu’on puisse se surprendre soi-même - voilà ce qu’il ne faut oublier jamais. L’homme, d’un point de sa durée, ne se voit tout entier.» (Paul Valéry)
Die Fähigkeit des Menschen zur Selbstüberraschung. Im Wachen liegt eine Tendenz zum Kontinuierlichen. Einbruch eines Diskontinuums in den Bewusstseinsfluss: Mit der Überraschung erwacht das Wachen.
Bestimmte Wörter führen immer wieder auf sich selbst zurück. Darin liegt mehr als das Fehlen von Synonymen. Andere finden sich in feste Assoziationsbahnen eingebunden, Trampelpfade des Wittgensteinschen Sprachgebrauchs. Wo sprachliche Arbeit noch auf die Vermeidung dieses Ausgetretenen zielt, bleibt sie Handwerk.
Soweit in die Sprache hineinkommen, dass man von der transparenten Innenseite des einen die Mannigfaltigkeit der nächsten Worte sehen kann. Distanzen!
Erst wenn das Unbetretene sich von seiner kategoriellen Bestimmung löst, wird das Wort neu. Es liegt dann, als Verstandenes, unter deinem Schuh.
Wer in der Lese-Schreib-Schlaufe wissenschaftlichen Arbeitens baumelt, braucht einen dicken Hals, einen Kopf nur selten. Dem Ochsen wächst der Nacken auch nur, wo das Joch scheuert.
«Le théâtre n’est pas un théorème, mais un spectacle, pas une leçon, mais un filtre.»
(Jean Giraudoux)
Innehalten, die Glashäuser des Botanischen Gartens leuchten grün durch den Park, mit Kaffee sich ans Fenster stellen und denken: das Schreiben zählt nicht zu den modernen Fortbewegungsmitteln.
Suche nach einer kristallklaren Lösung zur Auswaschung von Metaphernabszessen. Der Präzisionssüchtige in seinem Wahn, alles «sauber» bezeichnen zu können. Der Suchtzins freilich ist hoch: die Genauigkeit beginnt zu stottern.
Lob verschmutzter Ideenklumpen. Wie anders die abgezählten Buchstabenmoleküle, durch den Infusionsschlauch gespült: zitronenduftende, wohltuende Druckfrische.
«Recherche d’un point où l’intuition est impuissante et le symbole tout puissant - et le point réciproque où le symbole est impuissant. Prolongements - lois partielles.»
(Paul Valéry, aus dem Cahier «Begins April 02»)
Was begänne, an diesem Punkt, ein allmächtiges Symbol mit einer entkräfteten Intuition?
im morgengrau ist der fluss ein schneller
strich mit schwarzer fettkreide - die lichtreflexe
der kurzbeinigen laternen am ufer die der wind
vorbeiwinkt - unter der brücke hallt herauf was
der fluss am grund mitschleift oder er schlägt gegen
ein tau: das akustische spektrum eines rabenschreis
oder eines kurzen hustens - der kältegeruch
hinter dem fenster das die nacht zum spiegel macht
heisst frühnebel der von der oberfläche abdampft
Und wie man in die kalte Vorstadt hinaustritt, die Schuhe,
- die Schuhe sowieso zur Sprache zurückführen, wenn man geht, und ein Vers hervortritt, weil er aufmerksam war, auf den Rhythmus gehört hat, - die Schuhe, die Blätter zertreten und über die Strasse führen, und immer dann geht einer vorbei, der mir nachher meine Blindheit vorwirft.
Wer seine Schuhe schnüren kann, ist auch noch kein Knotentheoretiker.
Aber vielleicht ein Dichter?
«Où, rimant au milieu des ombres fantastiques,
Comme des lyres, je tirais les élastiques,
De mes souliers blessés, un pied près de mon cœur!»
Aus «Ma Bohème» von Rimbaud. Der Schuh als Speicher des lyrisch Erwanderten. Die Schnürsenkel werden zu Saiten. Was sich zur Erde bückt, reisst sich als Gesang wieder hoch. Ein schönes Bild.